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Geschichte unserer Nachbarn

Tschechen und Österreicher. Mehrere Jahrhunderte lang waren sie Einwohner eines Staates, in gemischten Familien wurde sowohl Tschechisch als auch Deutsch gesprochen, Verwandte lebten in beiden historischen Ländern.

Tschechen und Österreicher. Mehrere Jahrhunderte lang waren sie Einwohner eines Staates, in gemischten Familien wurde sowohl Tschechisch als auch Deutsch gesprochen, Verwandte lebten in beiden historischen Ländern. Nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 traten die grenzüberschreitenden Beziehungen lange Zeit in den Hintergrund. Die streng bewachte Grenze trennte die Großfamilien, und die Nachbarn aus den Nachbardörfern durften sich vierzig Jahre lang nicht begegnen.

Wie erinnern sich an diese Zeit die Zeitzeugen, Menschen aus dem tschechisch-österreichischen Grenzgebiet, deren Leben unmittelbar von den historischen Ereignissen betroffen war? Im Frühjahr 2021 widmeten sich diesem Thema die SchülerInnen des Gymnasiums und der Sprachschule mit der Berechtigung zur staatlichen Sprachprüfung in Břeclav (Lundenburg) und des Realgymnasiums des Schulvereins Komenský in Wien.

Erfahren Sie mehr über das Leben der Wiener Tschechen, denen der Eiserne Vorhang ihre ursprüngliche Heimat nahm, und über die Geschichten von Emigranten, für die Österreich nach der Flucht vor der kommunistischen Diktatur zur neuen Heimat wurde. 

Die Erzählungen entstanden im Rahmen des grenzüberschreitenden Projekts Geschichten unserer Nachbarn, das gemeinsam von der gemeinnützigen Organisation Post Bellum, der österreichischen Organisation Family Business und des Vereins Zukunftsraum Thayaland organisiert wird.

Das Projekt KPF-02-212 kam mit finanzieller Unterstützung des Kleinprojektefonds Österreich-Tschechische Republik und des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung im Rahmen des INTERREG V-A Programms Österreich-Tschechische Republik zustande.

Ziel des Projektes ist es, das Interesse an der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu wecken und die Entwicklung des kritischen Denkens bei Jugendlichen zu fördern sowie das Interesse am Thema Zeitgeschichte generationsübergreifend zu wecken.

Přemysl Janýr (* 1949)

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Přemysl Janýr lernte das kommunistische Regime bereits in seiner Kindheit hautnah kennen, als er seinen Vater, einen wegen Hochverrats und Spionage verurteilten Sozialdemokraten, im Gefängnis besuchte. Er selbst engagierte sich bereits am Gymnasium in der Politik, wo er eine Resolution gegen die Verfolgung englischer Flieger verfasste. Nach dem August 1968 wandte er sich zunehmend gegen das Regime. Er wurde aus politischen Gründen von der Universität verwiesen, er und seine Frau organisierten in ihrer Wohnung Dissidenten-Treffen, und er unterzeichnete und verbreitete die Charta 77. Die Behörden wollten seine Familie ausweisen, und so reisten sie mit dem Segen der Staatssicherheit nach Wien aus. Mit Hilfe seines Vaters, der schon früher dorthin ausgewandert war, gelang es den Janýrs, sich gut anzupassen, und Přemysl konnte ähnliche Aktivitäten wie zu Hause fortführen. Nach der Samtenen Revolution widmete er sich den Aktivitäten zur Verbesserung und Wiederherstellung der tschechisch-österreichischen Beziehungen. Beruflich etablierte er sich in Österreich im IT- und Programmierungsbereich.

Ruth Reiterer (* 1948)

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Ruths Vater, Armin Weltman, floh im April 1945 aus Auschwitz, während ihre Mutter Illsa wie durch ein Wunder den Todesmarsch überlebte. Nach dem Krieg lernten sie sich kennen und heirateten 1946 in Prag. Die Hochzeitsgesellschaft war schwarz gekleidet, weil sie noch immer um ihre Angehörigen trauerte, die den Holocaust nicht überlebt hatten. Ruth wurde als zweite von drei Töchtern in Brünn geboren. Die Weltmans traten in die Kommunistische Partei ein und hofften auf eine gerechtere Welt. Als Juden und Geschäftsleute wurden sie jedoch bald wieder verfolgt, ihre Textilfabrik wurde vom neuen Regime beschlagnahmt, und sie mussten von Brünn nach Jablonec nad Nisou (Gablonz an der Neiße) umziehen. Dort verbrachte Ruth ihre Kindheit. Nach vielen Bemühungen erhielt die Familie 1964 die offizielle Erlaubnis, nach Israel umzusiedeln. Doch dann kamen die Enttäuschung und der Schock, denn auch dort fühlte sich die Familie nicht sicher, und sie alle vermissten Europa sehr. Da sie nicht in die Tschechoslowakei zurückkehren konnten, ließen sie sich schließlich in Wien, nahe der Grenze, nieder. Ruth lernte Krankenpflege und arbeitete ihr ganzes Leben lang in Österreich als Krankenschwester in einer psychiatrischen Anstalt.

Michal Lion (* 1951)

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Michal Lion verbrachte seine Kindheit und frühe Jugend in der entspannten Atmosphäre der 1960er Jahre in Prag, wo sein Vater als Journalist arbeitete, der dem kommunistischen Regime nicht besonders wohlgesonnen war. Zehn Tage nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 31. August 1968 fuhr die Familie mit dem Zug für Ausländer nach Wien. Sie fürchteten Verhaftung und Verfolgung. Gegen das Heimweh half Michal sein Studium in England und den USA. Er studierte Psychologie, Anglistik und Slawistik, ließ sich dauerhaft in Österreich nieder und verdiente seinen Lebensunterhalt als Journalist und Lehrer, bevor er eine langfristige Stelle an der Österreichischen Nationalbibliothek antrat. Dort engagierte er sich unter anderem für den Austausch von Büchern mit Bibliotheken in Osteuropa. Er packte immer zwei oder drei Bücher von Exilverlagen in ein Paket für die Nationalbibliothek in Prag, damit sie tschechische Leser erreichen konnten. Nach der Samtenen Revolution entdeckte er jedoch, dass sie zwanzig Jahre lang in einer Kiste gelegen hatten − die Bibliothekare hatten Angst, die verbotenen Bücher auszuleihen.

Eva Václavská (* 1957)

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Eva Václavská wuchs in Mikulčice in der Region Hodonín auf. Sie absolvierte die Pädagogische Oberschule und wurde Lehrerin in der benachbarten Lausitz. Sie heiratete bald und bekam eine Tochter. Schon bald dachten sie und ihr Mann über eine Auswanderung nach. Die Familie ihres Mannes war beim Regime als Gegner der Normalisierung und des Einmarsches der Truppen des Warschauer-Paktes gelistet, und die Václavskýs befürchteten, dass ihre Tochter Schwierigkeiten beim Studium und bei der Arbeit haben könnte. Nach einigen erfolglosen Versuchen gelang es ihnen erst 1988, die für die Reise notwendigen Devisen zu beschaffen. Offiziell fuhren sie nach Jugoslawien, um dort Urlaub zu machen, in Wirklichkeit jedoch überquerten sie die Grenze nach Österreich. Dort kamen sie direkt in ein Sammellager. "Das war wahrscheinlich das Schlimmste. Es war in einer ehemaligen Kaserne, und ich hatte Angst davor, was mit uns passieren würde", erinnert sich Eva Václavská. Später fanden sie ein Zuhause in Altenmarkt an der Triesting, wo sie ein älteres Haus renovierten und viele Freunde fanden. Frau Václavská erinnert sich zum Beispiel an die Solidarität der Österreicher, als ihr österreichisches Haus in den 1990er Jahren von einer Überschwemmung verwüstet wurde. Im Jahr 1995 kehrten sie nach Mähren zurück.

Věra Gregor (* 1943)

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Věra Gregor wurde mitten im Krieg in einer Familie von Wiener Tschechen geboren. Ihre Eltern und Großeltern waren immer sehr aktiv in patriotischen Vereinen und in der tschechischen Gemeinde, sie waren Mitglieder des Orel- und Sokolverbands und des Vereins Barák. Im März 1945, als Věras Mutter ihre Schwester Eva erwartete, verlor die Familie ihre Wohnung durch die Bombardierung der Stadt. Die hiesigen Tschechen halfen, die stark beschädigte Ersatzwohnung, die Familie Gregor erhalten hatte, zu reparierten. Nach dem Krieg sah alles hoffnungsvoll aus, und die Familie wurde für die Rückkehr in die Tschechoslowakei angemeldet. Da der Eiserne Vorhang fiel, blieben sie in Österreich. Sie wollten jedoch, dass ihre tschechischen Wurzeln nicht in Vergessenheit geraten. Věra besuchte daher eine tschechische Schule und nimmt bis heute, dem Beispiel ihrer Vorfahren folgend, aktiv am Leben der tschechischen Minderheit in Wien teil. Nach dem Abitur fing sie bei einer Bank an, später absolvierte sie ein berufsbegleitendes Studium der Wirtschaftswissenschaften, promovierte und arbeitete fast ihr ganzes Leben lang für die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung, in deren Diensten sie die ganze Welt bereiste.

Milan Bruchter (* 1961)

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Milan Bruchter stammt aus dem südmährischen Dorf Přítluky. Er absolvierte das Gymnasium in Břeclav (Lundenburg) und arbeitete anschließend als Vermessungsingenieur. Dank seiner Freunde kam er Anfang der 1980er Jahre zur Fotografie, und so wurde sein Traum geboren: seine Werke auszustellen, am besten auch im Ausland. Dies war jedoch unter dem vorherigen Regime nicht möglich. Offiziell durfte man nur Folklore und kommunistische Propaganda fotografieren. Daher führte Milan neben seiner Arbeit als Fotograf im Bezirkskulturzentrum ein alternatives Leben in der Gemeinschaft anderer Künstler, Theatermacher oder Musiker und stellte inoffiziell in Wohnungen aus. Im November 1989 war er in Břeclav (Lundenburg) an der Gründung des dortigen Bürgerforums beteiligt und organisierte mit Freunden die Veranstaltung "Hände in Europa", bei der es 5.000 Menschen gelang, sich an den Händen zu fassen, eine Kette zu bilden und über die noch eingezäunte Grenze nach Österreich zu gehen. Es war das erste Mal, dass sich Nachbarn trafen, die fünf Kilometer voneinander entfernt wohnten und sich seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatten. Später engagierte sich Milan Bruchter nicht mehr in der Politik, wurde freischaffender Fotograf und begann schließlich in der ganzen Welt auszustellen. Auch heute noch arbeitet er hauptsächlich mit seinen österreichischen Kollegen zusammen.

Jaroslav Raclavský (* 1941)

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Jaroslav Raclavský wurde in Břeclav (Lundenburg) geboren und verbrachte sein ganzes Leben dort. Seine Vorfahren stammten aus Polen und Österreich, und beide Familien waren von den Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts betroffen. Eine der ersten Jaroslavs Erinnerungen stammt vom Kriegsende, als eine Fliegerbombe direkt auf den Hof ihres Hauses am Stadtrand von Břeclav (Lundenburg) fiel. Als 1948 der Eiserne Vorhang fiel, wurde die Familie von den Verwandten mütterlicherseits in Wien abgeschnitten. Sie konnten sich gegenseitig nur überwachte und zensierte Briefe schicken. "Sonntags hörte meine Mutter das Wiener Radio und weinte heimlich", sagt Jaroslav Raclavský. Später, in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, wurde der Mutter erlaubt, Verwandte zu besuchen, aber immer nur mit einem Kind oder ohne Kinder, damit das Regime die Garantie hatte, dass sie zurückkehren würden. Eine Auswanderung kam für die Raclavskýs jedoch nicht in Frage, da sie ihre Großfamilie nicht weiter auseinanderreißen wollten. Jaroslav studierte Verfahrenstechnik für Tief- und Wasserbau, bildete sich sein ganzes Leben lang in diesem Bereich weiter und verfolgte Trends. Er steht noch immer in engem Kontakt mit dem österreichischen Teil der Familie, er spricht mit seinen Cousins und Cousinen Tschechisch, ihre Kinder sprechen gemeinsam Deutsch, die jüngste Generation spricht Englisch.

 

Hana Kostohryz (* 1934)

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Hana Kostohryz und ihrer Zwillingsschwester wurden in Wien in einer tschechisch-österreichischen Familie geboren. Sie wuchs von klein auf zweisprachig auf, was sie bis heute als großen Vorteil betrachtet. Die Familie beteiligte sich intensiv am Leben der tschechischen Minderheit, Hana besuchte den Sokolverband, den Verein "Das tschechische Herz" und viele mehr, sowie eine tschechische Schule. Die letzten Kriegsmonate, als es in Wien immer gefährlicher wurde, verbrachte sie mit ihrer Schwester im Dorf bei einer Tante in der Nähe von Jindřichův Hradec (Neuhaus). Die Rückkehr nach Wien im Mai 1945 war schwierig. Hana, ihre Schwester und ihre Mutter mussten in mehrere Züge umsteigen, die nur sehr unregelmäßig fuhren, und in einem dieser Züge wurden ihre Rucksäcke gestohlen, in denen sich unter anderem ihre Schuhe befanden. Die Stadt war durch Bombenangriffe verwüstet worden, und es gab fast nichts mehr zu kaufen, nicht einmal Lebensmittel. Hana erinnert sich, wie sich die Kaufleute und Handwerker allmählich erholten und Wien Mitte der 1950er Jahre wieder auf die Beine kam. Im August 1968 erlebte die Stadt einen großen Zustrom von Emigranten, und die tschechische Minderheit wuchs erheblich. Hana lernte ihren Mann schon früher unter den in Österreich ansässigen Tschechen kennen, und sie waren 55 Jahre lang verheiratet. Heute ist Hana Kostohryz 88 Jahre alt, hat zwei Söhne und sechs Enkelkinder.