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Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung: Die Qualität leidet

Ob und ab wann Kinder fremdbetreut werden sollen, ist seit Jahrzehnten heftig in der – oft ideologisch geführten – Diskussion. Stand der Bindungsforschung, Situation in Deutschland und Österreich sowie mögliche Alternativen zur staatlichen Krippenbetreuung sind Thema einer dreiteiligen Serie auf der Familienseite der „Tagespost“. Teil 2
Von Alice Pitzinger-Ryba

 

Rekordwerte bei der institutionellen Kinderbetreuung vermeldet das Österreichische Institut für Familienforschung für das Jahr 2021. Ungeachtet dessen fordern die Sozialpartner (Gewerkschaft, Arbeitgebervertreter) in Österreich einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr nach deutschem Vorbild. Es ist müßig zu erwähnen, dass es bei der Diskussion nicht vorrangig um das Wohl des Kindes geht, sondern darum, Eltern möglichst schnell wieder in den Arbeitsalltag zu reintegrieren. Die Interessen der Wirtschaft überschneiden sich hier vortrefflich mit jenen der Gewerkschaften, denen es schon immer ein frauenpolitischer Dorn im Auge war, dass Mütter mit Kindern unter 15 Jahren vielfach „nur“ in Teilzeit arbeiten (75,5 Prozent). Väter hingegen bringen es nur auf „schwache“ 8,3 Prozent.
Was bringt nun der in Österreich so ersehnte Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung als Problemlöser schlechthin? Welche Erfahrungen wurden in Deutschland bis dato gemacht? 2002 hat sich die Europäische Union bemüßigt gefühlt, den EU-Staaten eine Quote für die Kinderbetreuung in den einzelnen Ländern vorzugeben. Gemäß den Barcelona-Zielen der Europäischen Union aus 2002 sollten die Mitgliedstaaten „bestrebt sein, nach Maßgabe der Nachfrage nach Kinderbetreuungseinrichtungen und im Einklang mit den einzelstaatlichen Vorgaben für das Versorgungsangebot bis 2010 für mindestens 90 Prozent der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schulpflichtalter und für mindestens 33 Prozent der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen.“
Diese Zielvorgabe ist in Deutschland bereits mit 34,4 Prozent übererfüllt, wobei wenig überraschend in den neuen Bundesländern 52,35 Prozent der Kinder unter drei Jahren fremdbetreut werden, während in den alten Bundesländern 30,6 Prozent der Kleinkinder in die Kita gehen (müssen). Österreich liegt derzeit bei der Betreuung der Krippenkinder bei 27,6 Prozent, wobei hier das Stadt-Landgefälle deutlich sichtbar ist. In der Bundeshauptstadt Wien werden zum Beispiel bereits 43,1 Prozent der Kinder unter drei Jahren vorwiegend in die „Krippe“ geschickt. Die Betreuungsquoten für die Kinder zwischen drei und sechs Jahren liegen sowohl in Deutschland als auch in Österreich bei weit über 90 Prozent. Die Europäische Union darf also zufrieden sein und könnte sich einmal zur Abwechslung um das Wohl von Kleinkindern und die Qualität in institutioneller Betreuung kümmern. Denn beides liegt im Argen. Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr zeigt einmal mehr die Defizite in Betreuungsqualität und Beachtung der Bedürfnisse der Kinder auf. Ein Rechtsanspruch hört sich sehr „fortschrittlich“ an, nur: wo es nicht genügend Betreuerinnen gibt, hilft auch kein Rechtsanspruch.

Rechtsanspruch überfordert Kommunen

Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist in Deutschland ein heikles Thema und hat nicht zur Entspannung beigetragen. In der Praxis können die Kommunen nämlich trotz Rechtsanspruch nicht immer einen Kita-Platz bieten. Seit dem 1. August 2013 besteht der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung aus Artikel 24 des achten Sozialgesetzbuchs. Daraus ergibt sich grundsätzlich für Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, ein Anspruch auf einen Kindergartenplatz.
Jüngere Kinder, die bereits das erste Lebensjahr vollendet haben, haben einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Folglich ist ein Kindergartenplatz für die Einjährigen kein Muss, alternativ ist ein Betreuungsplatz bei einer sogenannten Tagesmutter zur Verfügung zu stellen.
In vielen Fällen kann die Kommune aber keinen Betreuungsplatz anbieten und ihrer Verpflichtung folglich nicht nachkommen. Nicht wenige Eltern klagen daher einen Kindergartenplatz ein, um so doch noch zu ihrem Recht zu kommen. In den vergangenen Jahren mussten sich die Gerichte immer wieder mit solchen Fällen befassen. Wenn aber einfach kein Betreuungsplatz für das Kind zur Verfügung steht, ändert auch eine Klage nichts daran.
Allerdings haben verschiedene Gerichte die Kommunen in solchen Fällen bereits zur Zahlung von Schadenersatz verpflichtet. So muss die Kommune den Differenzbetrag als Schadenersatz zahlen, wenn Eltern einen teureren Kitaplatz finden, weil kein anderer Platz zur Verfügung steht. In anderen Fällen wurde Eltern Schadenersatz als Ausgleich für einen Verdienstausfall zugesprochen. Einschlägige Rechtsanwaltskanzleien wittern das große Geld und werben damit, die Schadenersatzklagen für Eltern einzubringen. Für die Gemeinden sind die Kosten im Bereich der Kinderbetreuung seit der Einführung des Rechtsanspruchs von 23,8 Milliarden auf gigantische 36,9 Milliarden Euro gestiegen. Neben der finanziellen Herausforderung für die Kommunen stellt vor allem das fehlende Personal ein großes Problem dar. Bis zum Jahr 2030 werden in Deutschland ca. 300 000 neue pädagogische Fachkräfte benötigt.
Diese Erfahrungen aus Deutschland haben dazu geführt, dass der Österreichische Gemeindebund sich jüngst kategorisch gegen einen Rechtsanspruch ausgesprochen hat. „Die Gemeinden legen Wert darauf festzustellen, dass ihnen ihre große Verantwortung im Bereich der Kinderbetreuung bewusst ist.“ Die Gemeinden (ohne Wien) gaben im Jahr 2019 laut Statistik Austria etwa 1,6 Milliarden Euro für die Kinderbetreuung aus. Zum Vergleich: Im Jahr 2000 wendeten die Gemeinden dafür etwa ein Drittel auf, nämlich gesamt 560 Millionen Euro. Dabei stiegen alleine die Investitionen, also die Ausgaben für Neubauten und Ausbaumaßnahmen, von 73 Millionen auf 212 Millionen Euro im Jahr 2019 an.

Personalengpässe mindern die Betreuungsqualität

Die Zahlen zeigen, dass sich in den letzten Jahren in diesem Bereich schon viel getan hat: In nahezu jeder Gemeinde gibt es einen öffentlichen Kindergarten, in vielen auch Betreuungsmöglichkeiten für unter dreijährige Kinder. Seit einigen Jahren stellt aber in vielen Gemeinden sowohl in Deutschland als auch in Österreich ein anhaltender Personalengpass die Bürgermeister vor große organisatorische Herausforderungen. „Es muss daher gemeinsames politisches Ziel sein, mehr Menschen für einen Beruf in der Kinderbetreuung zu begeistern“, heißt es in einem vom österreichischen Gemeindebund-Präsidium beschlossenen Positionspapier. Einen Rechtsanspruch lehnt Gemeindebund-Präsident Alfred Riedl vehement ab, da dieser die Gemeinden „einem nicht stemmbaren politischen, gesellschaftlichen und letztlich auch juristischen Druck aussetzen würde“. Die Vizepräsidentin und Frauenvorsitzende des österreichischen Gewerkschaftsbundes Korinna Schumann legt sich hingegen klar auf die gegenteilige Position fest: „Viele Eltern haben Probleme, Betreuung und berufliche Verpflichtungen unter einen Hut zu bekommen. Häufig sind es dann Mütter, die bei ihrer Erwerbstätigkeit zurückstecken. Der Weg zum Rechtsanspruch auf einen Kinderbildungsplatz ab dem ersten Geburtstag des Kindes muss daher rasch beschritten werden."

Die Diskussion in Deutschland und in Österreich verdeutlicht, dass das Thema Kinderbetreuung ausschließlich aus der Sicht der Wirtschaft und der Eltern gesehen wird. Tageseltern, einer wunderbaren Alternative, wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt. In Österreich ist die Zahl der Tageseltern in den letzten 10 Jahren um 39 Prozent gesunken, und macht nur 2,3 Prozent der Be- treuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige aus. Dies ist umso unverständlicher, als dass Tageseltern, selbst bei einem großzügigen Fördermodell, die Kommunen deutlich weniger kosten als Institutionen. Auch sind sie mit dem Kleinkindeswohl um vieles verträglicher. Das kostengünstigste Modell wäre allerdings, Eltern in den ersten drei Lebensjahren des Kindes finanziell zu unterstützen, damit sie die Betreuung selbst übernehmen können. Aber das ist politisch nicht gewünscht.